Max Reichpietsch


Am 24. Oktober 1894 in Berlin in ärmlichen Verhältnissen geboren, wurde ihm durchaus nicht an der Wiege geweissagt, daß sein Name in die Geschichte eingehen wird. Vielmehr war seine Entwicklung typisch für den Weg so vieler Menschen aus ärmlichen Verhältnissen: Besuch der Volksschule bis 14 - dann Geldverdienen. Einen Beruf erlernen konnte er nicht, weil die Familie auf seinen Verdienst angewiesen war. Er fand eine Arbeit bei der städtischen Müllabfuhr in Berlin. - Von Klassenbewußtsein, gar aktiver politisch-revolutionärer Tätigkeit konnte bei dem christlich erzogenen Max Reichpietsch zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht die Rede sein. Vielmehr war er, wie seine Mitgliedschaft in einer kaiserlichen Wehrorganisation "Deutsche Jugendwehr" zeigt, durchaus in die herrschenden Verhältnisse integriert. Bald versuchte er jedoch einen Ausbruch aus den ihm aufgezwungenen miesen Verhältnissen: Er wollte raus aus dem Dreck, wollte auch einmal einen weißen Anzug tragen dürfen, wie jene Begüterten, auf deren Tennisplätzen er sich schon in seiner Kindheit als Balljunge ein paar Pfennige hinzu verdient hatte.

Dieser Ausbruch wurde mehr ein Einbruch, wie sich später zeigte.

Zunächst aber war attraktive Kleidung gesichert und Aufstiegschancen in Aussicht. Mit 18 meldete er sich freiwillig zur kaiserlichen Kriegsmarine. Als der Erste Weltkrieg begann, war Max Reichpietsch Signalgast auf dem Flaggschiff "SMS Friedrich der Große" - eines der fünf größten Schiffe der kaiserlichen Kriegsmarine. Die Versetzung auf dieses Schiff betrachtete Max Reichpietsch als eine Auszeichnung, genauso wie er es als Auszeichnung angesehen hatte, daß er dem Kaiser und dem Großadmiral v. Tirpitz von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden hatte. - Max Reichpietsch war ein pflichtbewußter, disziplinierter Matrose, wie ihn sich der Kaiser nur wünschen konnte.

Was hat seine Wandlung bewirkt? Während der Beginn des Krieges bei vielen Menschen in ganz Deutschland einen nationalistischen Taumel auslöste, rief er bei Max Reichpietsch gemischte Gefühle hervor. Seine christliche Erziehung und der Glaube an das Gebot der Nächstenliebe erlaubten es ihm nicht, sich in einen Kriegsrausch hineinzusteigern. Der Krieg selbst förderte dieses ungute Gefühl. Die großen Seeschlachten des ersten Weltkrieges - und hier war es insbesondere die Schlacht vor dem Skagerrak Ende Mai /Anfang Juni 1916 mit an 10 000 Toten - erschütterten ihn zutiefst. Doch zu einer grundlegenden Wende kam es noch nicht.

Den Anstoß zur Wende gab wohl die brutale Behandlung, die ihm durch einen Unteroffizier widerfuhr, der ihn während des Dienstes am 27. Mai 1916 völlig grundlos niedergeschlagen hatte. Max Reichpietsch hatte immer das Ziel gehabt, ein guter Matrose zu sein und er hatte geglaubt, daß sein Können als Signalgast, sein Ruf als zuverlässiger und versierter Mann auf dem obersten Deck des Flaggschiffes ihm Ansehen einbringen würde, wenn ihm schon ein Aufstieg wegen seiner Herkunft und Schulbildung versagt bleiben sollte. Dabei war er nicht zimperlich: Er hatte während seiner Militärdienstzeit manche Schinderei miterlebt. Empört hatte ihn nur, daß selbst vorbildlichste Soldaten vor Übergriffen nicht verschont geblieben waren. - Max Reichpietsch fühlte sich durch die ihm widerfahrene Behandlung in seiner Würde zutiefst verletzt. Durch den Hochmut und die Menschenverachtung seiner Vorgesetzten darauf gestoßen, gelangte er allmählich zu der Erkenntnis, daß er selbst in der Uniform der Elite des Kaisers immer nur der "Ballholer" bleiben würde, wie schon als kleiner Junge auf den Tennisplätzen der Reichen.

Nach diesem Ereignis fand Max Reichpietsch Anschluß an eine Gruppe revolutionärer Sozialdemokraten. Begeistert wurde von ihnen die Nachricht von der Februarrevolution in Rußland aufgenommen und es war insbesondere Max Reichpietsch, der sich zu einem glühenden Agitator für das russische Beispiel entfaltete. Mehrfach forderte er die Bildung von Matrosenräten, wie es in Rußland geschehen war. Von seinen Kameraden beauftragt, nahm Max Reichpietsch während eines Heimaturlaubs im Juni 1917 Verbindung zur Zentrale der USPD auf, um dort über die Kriegsmüdigkeit und Friedenssehnsucht in der Flotte zu berichten. Obwohl er feststellen mußte, daß die rechten Führer der USPD kein Verständnis für die Probleme der Matrosen aufbrachten und revolutionäre Aktionen ablehnten, entfaltete er nach seiner Rückkehr an Bord eine rege Aufklärungs- und Organisationstätigkeit. Bestanden bis zu seinem Berlinbesuch nur lose Gruppen von Gesinnungsgenossen, so entwickelten sich nun mit der Festlegung von Vertrauensleuten und der Bildung von Menagekommissionen eine weitverzweigte und festgefügte Organisation. "Wir müssen den Leuten klarmachen", heißt es in einem von Reichpietsch verfaßten Rundschreiben, "daß die Menagekommissionen der erste Schritt zur Bildung von Matrosenräten nach russischem Muster sind."

Ende Juli entstand eine Flottenzentrale revolutionärer Matrosen, der auch Reichpietsch angehörte. Die revolutionäre Bewegung breitete sich aus. Ihr Ziel war es, dem Krieg mit Gewalt ein Ende zu machen. Einen Höhepunkt erreichte die Bewegung am 2. August 1917 als 660 Matrosen ihr Schiff zu einer Kundgebung verließen. Daraufhin schlug die Flottenleitung und Militärjustiz brutal zu. Die Führer der revolutionären Matrosen, unter ihnen Max Reichpietsch, wurden verhaftet. Versuche, ihn zum Verrat an den Kameraden und an der Sache zu bewegen, scheiterten. Vielmehr schleuderte er dem Untersuchungsoffizier sein Bekenntnis ins Gesicht: "Ja, ich bin ein Gegner dieses Regimes, das die einfachen Menschen ausbeutet, unterdrückt und einer Handvoll hochwohlgeborener Nichtsnutze ein Leben in Saus und Braus beschert." Das reichte aus, um gegen ihn ein Todesurteil durchzupeitschen. Aus Angst vor Unruhen wurde das Urteil nicht in Kiel sondern in Köln-Wahn vollstreckt. Im Morgengrauen des 5. September 1917 wurde Max Reichpietsch zusammen mit Albin Köbis aus dem Festungsgefängnis Köln mit einem Auto zum Schießplatz Wahn überführt. Um 07.03 Uhr fielen die tödlichen Schüsse, die Max Reichpietsch und Albin Köbis mordeten.

Max Reichpietsch ist noch nicht einmal 23 Jahre alt geworden.

Ihm und seinesgleichen setzte Heinz Kahlau ein unvergängliches Denkmal:


Der hört nicht auf, wenn er tot ist,
streut man ihn auch in den Wind
der setzt sich fest in den Köpfen,
bis sie von seiner Art sind.

Der war - ist - wird überdauern
alles was gegen ihn spricht.
Der ist durch nichts zu ersetzen.
Ohne ihn lohnt es sich nicht.


E. Kiehnbaum